Innehalten und Produktivität? Ist das kein
Widerspruch?
Die meisten Arbeitgeber sehen hier wohl tatsächlich
zwei konträre und unvereinbare Dinge. Wenn man ausruht, leistet man nichts,
vergeudet man seine Zeit und gleicht einem müden Hund, der sein Leben
verschläft. So das allgemeine Diktum. Das Nichtstun ist in unserer Gesellschaft
verpönt, der Burnout hingegen eine edle Erkrankung, bei der die Kollegen einem
anerkennend auf die Schulter klopfen. „Wow, musst du geschuftet haben,
dass du vor Erschöpfung umgekippt bist. Respekt!“
Diese Bestandsaufnahme mag überspitzt sein,
verdeutlicht aber die Grundzüge unserer extremen Leistungsgesellschaft, die
inzwischen – für mein Dafürhalten – krankhafte Züge angenommen hat. In einer
Welt, deren Angelpunkt das höher-weiter-schneller-Prinzip ist und in jeder
Hinsicht auf Turbo getrimmt ist, fällt es schwer, ein glückliches und
zufriedenes Leben zu führen. Sehr viel leichter erkrankt man an Depression und
Burnout – den neuen Volkskrankheiten.
Wegen des enormen Leistungsdrucks, der uns
buchstäblich in die Wiege gelegt wird, tun viele Menschen nicht das, was sie
wirklich wollen und am besten können, sondern das, was sie glauben, tun zu
müssen. Was keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen abwirft, wird als
Zeitverschwendung angesehen. Diesen Wahnsinn halten viele nur mit Antidepressiva
und Psychopharmaka aus. Seit dem Aufkommen mobiler Endgeräte wie Smartphones
und Tablets ist unsere Welt verdammt in Eile geraten. Arbeit ist praktisch
jederzeit und überall möglich. Rund um die Uhr prasseln Informationen schneller
auf uns ein, als wir sie verarbeiten können. Die daraus folgende
Reizüberflutung führt zu Stress, Schlafmangel und einem Gefühl des
Ausgebranntseins.
Wir befinden uns mit Vollgas auf der Überholspur und
ignorieren – aus Angst, den Anschluss zu verlieren –
die hektisch flimmernden Warnlampen im Armaturenbrett. Wir drücken das Gaspedal
so lange durch, bis der Motor qualmt oder uns der Sprit ausgeht. Dabei wäre es
so leicht, zwischenzeitlich einen Gang runterzuschalten und an einer
Gaststätte anzuhalten.
Kreativität
lässt sich nicht takten
Auch ich war einige Zeit auf der Leistungsschiene. Mit
festen Schreibzeiten und Pensen wollte ich für Quantität sorgen. Drei Bücher im
Jahr sollten es sein – mindestens. Beim Schreiben habe ich den Timer meines
Smartphones auf eine Stunde gestellt. Nach Ablauf dieser Zeit – das Signal war
ein schriller Klingelton, der stets wie ein Damoklesschwert über mir hing – mussten
1.000 Worte stehen, koste es, was es wolle. Mit dem Zeitdruck im Nacken gebe es
keine Prokrastination, so meine Überlegung. Was das angeht, hatte ich sogar
recht: Das Pensum habe ich in der Regel geschafft, die vorgegebene Quantität
also erreicht. Doch nach einer Weile habe ich die miese Qualität meiner Arbeit erkannt.
Die Texte wirkten lieblos hingeschmiert (was sie aufgrund des Zeitmangels größtenteils
auch waren!), ohne Sinn für Details, Glaubwürdigkeit und Einfallsreichtum.
Aber was noch schlimmer war: Ich fühlte mich mit dem
künstlichen Druck nicht wohl. Das Schreiben hat mir – anders als früher – keine
Freude mehr bereitet. Vielmehr habe ich es als Pflichtübung empfunden. Das
Schreiben war keine magische Reise ins Unterbewusstsein mehr, kein wundersames
Träumen im Wachzustand, sondern unliebsame Arbeit, die möglichst
pragmatisch zu erledigen ist – wie Geschirrspülen oder Aufräumen. Ich habe mich
aufs Schreiben nicht mehr gefreut, sondern beim Anblick der Tastatur das
Gesicht verzogen, als hätte ich in eine Zitrone gebissen. Irgendwann wurde mir
klar, dass das nicht mein Weg ist. Mit dem Timer im Nacken schreibe ich weder
gute Romane noch habe ich Freude am Schreiben.
Um es in einem Satz zu sagen: Kreativität lässt sich
nicht takten.
"Ein Buch will seine Zeit wie ein Kind."
Feste Schreibzeiten helfen zwar, einen beständigen Fortschritt
zu erzielen. Aber wenn wir unsere Kreativität in ein allzu enges Korsett
schnüren, erstickt sie. Wir müssen sie atmen lassen und ihrem Willen folgen. Unsere
Inspiration hält sich nicht an Termine, wir müssen uns nach ihr richten. Hin
und wieder beehrt sie uns, doch lässt sich ihr Erscheinen nicht planen und noch
weniger erzwingen. Wenn uns eine Idee zuflattert, müssen wir das Netz auswerfen
und sie einfangen. Aber wenn uns einmal nichts Besonderes einfällt, dürfen wir
uns nicht grämen, sondern müssen eben auf die nächste Gelegenheit warten. Wenn
wir unsere Muse in den Würgegriff nehmen und zum Reden zwingen wollen, wird sie
uns gar nichts verraten. Im schlimmsten Fall bleibt die Dame aus Bockigkeit
wochenlang fern. Wir brauchen Ruhe und Geduld, um unsere Fantasie zu entfalten.
Mit Druck lässt sich beim kreativen Schreiben nichts erreichen.
Dieser Beitrag soll keine Hymne an die Bequemlichkeit
sein. Ich will nicht sagen, dass wir uns den ganzen Tag in die Hängematte legen
sollen, bis uns zufällig ein großartiger Einfall ereilt. Aber ich behaupte
Folgendes: Das höher-weiter-schneller Prinzip ist ein Killer für die
Kreativität und für die Leistungsfähigkeit überhaupt. Es bringt weder
bedeutende (geistige) Leistungen hervor, noch ebnet es den Weg in ein glückliches
Leben. Vielmehr schadet ein extremer Leistungsdruck der Gesundheit und führt zu
psychischen Erkrankungen. Damit ist unserer Gesellschaft beileibe nicht geholfen. Deshalb fordere ich ein Umdenken – seitens der (Bildungs-)Politiker und Arbeitgeber. Ist
ein gesunder und zufriedener Arbeitnehmer, der über einen langen Zeitraum eine
zuverlässige Leistung erbringt, nicht sehr viel wertvoller als ein Hochleistungsangestellter,
der nach kurzer Zeit krankheitsbedingt aus dem Unternehmen ausscheidet? Spendet
eine Lampe, die lange mittelstark brennt, nicht erheblich mehr Licht als ein gleißend
heller Strahler, der nach kurzer Zeit durchschmort?
Wir sind Menschen, keine Roboter. Deshalb brauchen
wir Ruhe und Erholung. Wer gute Bücher schreiben will, sollte sich in ein
stilles Zimmer ohne Uhr zurückziehen. Kreativität verträgt sich mit keinem
Terminkalender. In der Ruhe liegt die Kraft, und aus der Ruhe schöpfen wir neue
Energie. Aus diesem Grund ist ein regelmäßiges Innehalten der Schlüssel für eine
dauerhafte Produktivität und Voraussetzung für ein gesundes und glückliches
Leben.
Niemand fühlt sich wohl, wenn der Timer als
Damoklesschwert über ihm baumelt. Qualität braucht Zeit, und Kreativität verlangt
Entfaltung in ruhiger Stunde.
Um es mit Heinrich Heine zu sagen:
„Ein Buch will seine Zeit wie ein Kind. Alle schnell in wenigen Wochen geschriebenen Bücher erregen bei mir ein gewisses Vorurteil gegen den Verfasser. Eine honette Frau bringt ihr Kind nicht vor dem neunten Monat zur Welt.“